Wie soll man die eigene affektive Geistesverfassung erkennen, wie kann man dabei unser
wissenschaftliches Denken und Werten als unabhängig-objektives Werkzeug benutzen, wenn
es selber das Produkt und der Ausdruck dieser Gesellschaft ist ? Wenn man selber in ihr
schwimmt, gar, wenn man andere Lebensweisen fast nicht kennt ( oder verachtet ) und die
eigene als erfolgreichste, an der Spitze stehende erlebt und naiv als Wertmassstab für alle
Werte benutzt ? Im blauen Licht scheint alles Blau, Hell- oder Dunkelblau. Auch das wirkliche
Blau, wie soll man nun Blau, Weiss, Gelb, Grün, Rot und Schwarz sicher unterscheiden, oder
gar Zwischentöne, Nüancen wie Violett oder Orange ?
In dieser Lage und Beleuchtung leben wir seit langem, und jetzt bald die ganze Welt, lebten
schon im letzten Jahrhundert Lyell und Darwin. Ihr Biotop war die imperiale
Eigentumsgesellschaft in ihrer fortschreitend-"fortschrittlichen" englischen Hochblüte als
Manchestertum, und die imperial weit ausgreifenden Wissenschaften waren ihr intelligent-lebendiges
Pendant, ihre Schrittmacher, ihr mit Erfindungen zudienend, sogar sie antreibend,
lobend, preisend, vom gleichen Geist geformt weil aus gleicher Wurzel entstanden.
Drum ist es selbstverständlich, dass ihr Seinsgrund wieder auf sie abgefärbt hat und ihre
Theorien nicht nur formal von der gemeinsamen Wurzel her, sondern auch affektiv gleich
getönt, zeit- und milieugebunden, sowohl optimal angepasst wie spezifisch beschränkt waren.
Daraus soll ihnen kein Vorwurf gemacht werden ( es gilt auf irgendeine Weise ebenso für alles
hier Vorgebrachte, nunmehr gefärbt von einer krisenhaften Zeit ). Ihre solchermassen geprägte
Geisteshaltung, weil von den Nachfolgern zuwenig hinterfragt, vereinfacht heute noch als
Denkschema die Sicht auf das vieleswollende Leben. Sie sehen dementsprechend zuerst und
fast ausschliesslich den Egoismus und den Konkurrenzkampf ums Überleben, genau
entprechend den Spielregeln der aktuellen Gläubiger-Schuldner-Gesellschaft. Sie glauben im
vollen Ernst, das sei eine streng sachliche Feststellung - keinesfalls subjektiv und affektiv -
moralistisch wie die Meinungen jener, die zusätzlich auch von Mitgefühl, Einfühlung,
gegenseitiger Hilfsbereitschaft, von Wählenkönnen und - wollen, von Spiellust, Freude an
Schönheit usw. reden, welches bei Menschen ( und wohl auch bei andern Tieren ) vorkommen
kann, so gut wie Egoismus und Gewalt.
Aber Leben will leben, so erlebt es sich selbst
( subjektiv, von innen ), die Betonung auf
"Überleben" bei unsern Biologen ist ideo-logisch, ist unbemerkte Übertragung von der
Geldwirtschaft her, wo das Überleben wichtiger ist als die Lebensbedürfnisse, welche "nur
Antrieb" im Geldgewinnspiel sind. Von aussen ( ’objektiv’ ) gesehen ist Leben gleichwichtig wie
Tod, sie bedingen sich gegenseitig. Da "will" Leben sich selber nützen und muss sterben um
den andern zu nützen, als komplex-komplementärer Kreislauf. Dieses Gegenseitige als ein
überall Wichtiges und Waltendes zu sehen, wäre ein vertieftes Nachdenken wert. Oder die
simple Beobachtung ernst zu nehmen, dass dem Kampf meistens ausgewichen wird, dass halt
einfach Nischen besetzt werden, Kompromisse eingegangen werden, dass die
Umweltbedingungen wichtiger sind als der Kampf gegeneinander, oder dieser eher gegen
Artfremde ( oder bei den Menschen als ’artfremd’ Erklärte ) geführt wird. Zuletzt und vielleicht
auch zuerst wäre zu bedenken, dass jeder Mensch, jedes Wesen einen zum grössten Teil
unbekannten ’Notvorrat’ an Eigenschaften/Fähigkeiten hat, der eben auch nur in extremen
Situationen hervortritt, sei es dann zum Guten oder Bösen.
Subjektiv ausgewählt und affektiv gesteuert sind mehr oder minder alle Urteile ( kollektive,
zur Zeit ’überall’ geltende glaubt man als objektiv ), das haben unterdessen selbst die Logiker
entdeckt, und so könnte man, über die darwinistischen Vorurteile hinweggehend, endlich zur
Sache kommen, zum vielfältigen, vieleswollenden Leben, das man tatsächlich vorfindet.
Lyell und Darwin stehen in einem noch grösseren Zusammenhang mitsamt allen damaligen
Naturwissenschaftlern insofern, als das vorher gültige hierarchische Schöpfungsbild, Gott
ausserweltlich und uranfänglich an oberster Stelle, Schöpfer aller Welten, der weiten Erde, der
Menschen, Tiere, Pflanzen, Winde und Gewässer, vom Gelehrten Lamarck auf den Kopf gestellt
wurde. Jetzt, in Lamarcks Entwurf, begann das Leben mit Infusorien und entwickelte sich von
’unten’ immer ’höher’ bis zur Krone Mensch. Derartig blosses Auf-den-Kopf-stellen ist nie
wirklich neuartig, es bringt meist nur anders-schräge Erklärungen anstelle der vorherigen.
Immerhin hatte man damit so etwas wie eine atheistische Schöpfungsgeschichte von noch
unerforschtem Ausmass, willkommen den Wissenschaftlern sowohl wie der Gesellschaft, die
seit der französischen Revolution nur noch ein wirkliches Credo hatte, möglichst viel Geld-Eigentum
zu erwerben. Ein allzu nüchternes und reduziertes Glaubensbekenntnis. Nun bot ihr
die Wissenschaft, welche behauptet, nur die Wahrheit zu wollen und jeden Glaubenstrug zu
verdammen, ein neues Weltbild an, das - man begreift es - Vertrauen und damit Glauben fand.
Von ausserhalb von ’Blau’ gesehen, ist es vielfach nur Glaube, Religionsersatz zum
allermindesten, und durch Darwin bio-logisch mit der reduzierten Wertskala der Geldwirtschaft
fest verknüpft. Statt mit dem alten Glauben müssen wir uns jetzt mit seinem Ersatz
herumschlagen - kein grosser Fortschritt.
Ist es also einfach Egoismus, wenn die Grossmutter mithelfen, wenn sie ( wie etwa in der
Frühzeit ) die besseren Knollen kannten und fanden, wenn sie wie zu allen Zeiten, die Kinder
umsorgen, den Enkeln Lieder vorsingen, ihnen kleine Fertigkeiten beibringen, sie Spiele lehren,
von früheren Zeiten erzählen, so die Generationen mit Gefühl und Verstand, mit Rat und Tat
verbinden, so auch die Mütter, auch die Väter entlasten ? Was habe ich alles von meiner
Grossmutter mütterlicherseits mitbekommen ( die andere ist vor meiner Geburt gestorben ),
was hat sie alles, bewusst und unbewusst uns/mir gegeben ! Selbstverständlich auch zu essen,
aber auf welche Weise : In der Küche durfte ich zuschauen, wie die Spiegeleier in der Pfanne
brutzelten, die Rösti gebraten und gewendet wurden, dann hiess es, weil ich damals ’nervös’
und kränklich war "Iss Robertli, iss, dass du stark wirst", und es war gut und sie drängte mir
nichts auf, das ich nicht mochte ( in erfreulichem Gegensatz zu meinem Vater ). Ihre Stube war
meist voll Enkel und Nachbarskinder. Bei ihr hörte ich alte Volkslieder von heimwehkranken
schweizer Söldner, Liebeslieder, aber auch den neuesten Schlager von Zeppelin. Sie erzählte
von den Soldaten der Bourbaki-Armee, die 1870/71 in die Schweiz abgedrängt worden waren
und interniert wurden, von denen einige bei ihnen im Stall im Stroh unterkamen. Als ihr Sohn
mein Götti - ein Fräulein aus Basel geschwängert hatte und er ausriss, rief sie ihn zurück und
sagte : "Du dummer Bub, heirate sie, sie ist die Beste die du haben kannst". Das Urteil
stimmte. Sie nahm das Klärchen gleich in ihren Haushalt auf. Ich hab es als kleiner Bub
miterlebt, wie nun das fremde Vögelchen fröhlich zwitscherte, während die Nähmaschine
schnurrte, weil da Kinderkleidchen entstanden. Doch gehört zu diesem schönen Bild auch, dass
ihre zwei längst erwachsenen Töchter ( meine Mutter und meine Gotte ) mit ihr sehr erhebliche
Schwierigkeiten hatten. Das war ihre andere, befehlerische Seite. Wenn ich also ein ( allein ! ) an
der Ernährung orientiertes Urteil lese wie das von der Anthropologin Kristen Hawkes von der
Universität Utah : Frauen erreichen ein so hohes Alter, um abzusichern, dass ihre Enkelkinder
etwas zu essen erhalten. Dabei handeln die Grossmütter - evolutionstheoretisch gesehen -
egoistisch, denn erstens überleben ihre Enkelkinder, zweitens werden ihre Töchter fruchtbarer,
und drittens kommen die grossmütterlichen Gene weiter
( Tages-Anzeiger Zürich, 22. Nov. 97 ).
Dann fluche ich wieder einmal über die verengte Sichtweise der SpezalistInnen, über ihre
halben oder sektoriellen Grossmütter wie es sie nirgends in der Welt gibt. Lebendes will doch
weit mehr als nur überleben und Gene weitergeben. Wer Essen als das Wichtigste deklariert,
hat bloss einer parteiischen Ansicht zum ’Sieg’ verholfen. Zum Glück weist die ganze
Untersuchung auf die lang übersehene ( vielfach ) wichtige Rolle der älteren, nicht mehr
gebärenden Frauen hin, die gerade dadurch frei werden für die Fortsetzung ihrer mütterlich-fürsorglichen
Verhaltensweisen. Traurig bin ich über Frauen wie diese Kristen Hawkes, dass sie
ihre reiche menschliche Erfahrung auf einen kleinen Ausschnitt ’wissenschaftlich’ reduzieren,
dass sie nicht einmal merken, in welch enges geistiges Laufgitter ihre Professoren sie schon
während ihrer Ausbildung eingesperrt hatten. Hinter diesem Zaun dürfen sie dann deren
Theorie-Bockmisthaufen nach vorgegebener Methode kultivieren. Begreiflich, dass viele, und
nicht die Unsensibelsten, damit erhebliche Mühe haben. Manche kehren diesem Betrieb den
Rücken zu, obwohl gerade die Biologie, resp. das sich entfaltende Leben, sie anspricht. In der
Kampfsprache der Männer heisst das "sie geben auf". Das eigentliche Hindernis dieser Frauen
ist allerdings zu fest, breit und gross und zu tief verankert, als dass Einzelne es beiseite
räumen könnten. Schon gar nicht als Professorinnen, denn bis dann sind sie voll integriert.
So blau wie Blau. Das subjektive, affektive Urteilen ausschalten, bis jetzt eine Maxime
unserer Wissenschaften ( und sogar ihr recht affektbetonter Stolz ) - hier zeigt sich die feudal -
und eigentumsgesellschaftliche Wurzel ihres Denkens. Man kann das nicht Darwin anlasten,
das hat er nur geerbt und mit allen andern Kollegen weitergegeben. Es ist etwas älter, aber
zwei noch frühere Lebensweisen, die der sog. Altsteinzeit und der Stämme, letztere
mindestens vor der auch sie verstörenden "Katastrophenzeit", haben es nicht gekannt.
Vielleicht sind deshalb jene Denkweisen gerade bei unseren Wissenschaftlern nahezu
unbekannt, ausgerechnet die Sozio-Biologen scheinen sie nur oberflächlich, im Muster gängiger
Meinungen zu kennen. Sind sie ihnen dank ihrer Schulung nicht nachvollziehbar ? Man müsste
die Handlungssymbolik jener Stämme zu verstehen suchen, sie ist ein zusammenhängendes
Beziehungssystem, welches das ganze Sein, den gemeinsamen Alltag in allen Aspekten, Leben
und Tod, umfasst, das uns durchaus verständlich erscheint, sobald wir nicht nur seltsame
Details, sondern die Verflechtung der Bedeutungen erfassen, in welchem jedes Teil seinen
sicheren Platz hat. Wir könnten vielleicht einen Zugang finden, gerade weil wir vielfach ähnlich
archaisch denken. Wenn auch viel weniger aufmerksam wahrnehmend-verbindend als jene
Wilden, und zusätzlich abgelenkt durch ganz andere Werkvorstellungen und
Gesellschaftsformen.
Aber so gefühlsausschaltend wie unsere heutigen Wissenschaftler dachten seit der den
Stämmen folgenden Feudalzeit die königlichen Herren und Heerführer, die Verwalter und
Beamten. In der heutigen Eigentumsgesellschaft durchseucht es als Geschäftsdenken weite
Gebiete des Alltags ( zum Glück niemals alle ).
Es entspricht ganz und gar der Wertordnung dieser Wirtschaft. In ihr gilt nur das gezählte
Geld als schuldentilgendes Eigentum, als zählbare Überlebens-Potenz. Güter und Dienste,
Essen, Trinken, Arbeiten und Vergnügen, Liebe und Hass sind daneben nur antreibende
Nebensache, ausser man könnte wieder "Geld daraus machen". Nur es zählt und garantiert das
Überleben, allerdings nur innerhalb ihrer Spielregeln und Zwangsmitgliedschaft. So vereinfacht
diese Wirtschaftsordnung das unübersichtliche, oft widersprüchliche Leben durch ihre eisernen
Regeln. Und so bewertet die Wissenschaft die Berechenbarkeit von Allem, und der
Darwinismus ( potenziert ) das Überleben der Art als das Wichtigste. Das aktuelle Bedürfen,
Hunger, Durst, Liebe, Hass, Zärtlichkeit, Treue und Anhänglichkeit, die Lust am Tun und
Lassen, am Schaffen und Spiel, sind ihm nicht ’das Eigentliche’ sondern nur Zudiener um zu
überleben und Gene dem eigenen Clan weiterzugeben - in frappanter, genauer Analogie
zum wirtschaftlich geordneten Verhältnis von Geld zu Bedürfnis.
Wirtschaft und Wissenschaft spannen auch darum gern gleichsinnig zusammen. Die
Nützlichkeit von Erkenntnis für die Patentschöpfung, als neue Form von belehnbarem und
verwertbarem Eigentum im Wettbewerbkampf, vermählt dann im Sponsoring-Hochzeitsbett
was noch verschieden ist. Beide sind selbstverständlich geschäftlich und wissenschaftlich
streng objektiv und ethikneutral. Eigentlich ist ihnen die Ethik entbehrlich ( nur als
Verdammung von Betrug nötig ), oder geradezu ein Hindernis der Forschung und des
Gewinnmachens. All diese Selbstähnlichkeiten wären schon längst aufgefallen, wenn nicht...
Ja, woran liegt es denn ? Umgekehrt gefragt : Scheint auch deshalb der Darwinismus immer
noch so stimmig ( vor allem in den USA ) ?
Blaublau in Nüancen und Variationen, aber zuverlässig immer blau. Zum Darwinismus, der
seinen gesellschaftlichen Nährgrund nicht zur klareren Kenntnis nimmt und darum unbemerkt
in seinem Sinn fühlt und denkt, gehört auch die ’Tatsache’, dass alles immer so gelaufen ist
wie jetzt, nur nicht so fortgeschritten wie jetzt : Das ist der sog. Aktualismus des Geologen
Lyell mit seiner Ausschliessung von katastrophischen Umbrüchen und der gern gefolgerte
’logische’ Schluss des Biologen Darwin, sein Gradualismus ( Allmählichismus ). Kombiniert
heisst das : Es gibt keine anderen Vorgänge als was wir heute beobachten können, es gab
Evolutionen, gewiss, aber keine Revolutionen, höchstens Epidemien, kleine Krisen, vor allem
keine Erdkatastrophen, wie dieser Cuvier behauptet hatte. Ausserdem musste sich Mutation an
Mutation wie ein englischer Backsteinbau, aber ohne Plan aufbauen und unzählige
Missbildungen überleben, um funktionsfähige Organismen zu bilden. Deshalb ging alles halt
viel-zu-viel länger als man bisher glaubte. Darwin und seine Nachfolger forderten ultimativ
mehr Evolutionszeit, um die klägliche Qualität ihrer Theorie mit Quantitäten von
Jahrtausenden, dann Jahrhunderttausenden, Jahrmillionen, zuletzt Milliarden zu kompensieren.
Die Geologen haben sich seither dem Ansinnen willig gefügt und dabei für jedes Zeitalter
Millionengewinne ( an Jahren ) gescheffelt. So sind innert bloss hundertfünfzig realen Jahren in
kleinen und grossen Theorieschritten die Erdschichten immer älter ( nicht dicker ) geworden,
und jedesmal war es das wahre Alter, wurde geglaubt, pardon, gewusst, seit Entdeckung der
Radioaktivität und dank dem Spinner Wegener manches etwas besser verstanden. Auch die
Katastrophen, sofern sie nur zeitlich weit genug zurückbleiben, werden seit einigen Jahren so
nach und nach von der Theorie gnädigst akzeptiert. Schon ist heute der "unsichtbare
Kryptovulkanismus", der das Nördlinger Ries verursacht haben sollte, selbst bei den heutigen
Geologen vergessen, die ihn in ihrer Jugend noch gläubig lernten und dann dozierten.
Andererseits weiss schon kein Geologe mehr, dass man die Milliarden dem Allmählichismus
Darwins verdankt. Der Prozess hat sich verselbständigt und beweist längst, dank gesichert
millionenalten Schichten, das millionenalte Menschenalter. Der klassische Zirkelschluss. Man
sollte ihm endlich offiziell ein Denk mal setzen.
Und wie steht es mit der Theorie von den blind aufeinanderbauenden Mutationen ? Glaubt
noch jemand diesen unwahrscheinlichsten aller Fälle ? Sehen wir doch das Lebensfähige immer
nur als ein in sich sinnvoll Verbundenes, und nur als in sich sinnvoll Verbundenes kann es
leben und überleben ? Natürlich ist das keine Erklärung, sondern nur eine überall beobachtbare,
ansatzweise gedeutete Wahrnehmung. Sie ist so tautologisch wie das "der Fitteste überlebt
und der Überlebende der Fitteste ist", aber nicht so eng gefasst wie die darwinistische
’Theorie’. Vorläufig sind beide Redeweisen parteiische Deutungen von Phänomenen, welche die
Theorie noch nicht genügend erklären kann. Liegt der Mangel bei den selektiven
Wahrnehmungen und/oder der noch vortastenden Beurteilung, oder bei einer Grenze unserer
Erkenntnismöglichkeiten ? Der Physik-Nobelpreisträger Pauli sagte denn auch zu einem damals
jungen Freund Franz Speck, auf seine kecke Frage, was man schon alles wisse : "Soviel" und
zeigte ihm einen schmalen Spalt zwischen Daumen und Zeigfinger. Wenn aber sensationell in
der Zeitung präsentiert wird, wie ein ’Augen-Gen’, jenachdem verpflanzt auf den jeweiligen
’Mutterboden’ eines Fliegenbeins oder eines Froschkörpers, ein komplettes Fliegenauge oder
Froschauge wachsen lässt, so ist das zwar eine Sensation, aber kein Fachjournalist frägt, wie
stark solche ( und ähnliche, zu erwartende ) Phänomena die Evolutionsvorgänge radikal
verkürzen. Tausendmal schneller, hundertausendmal, und auf welche Weisen abkürzend ? Fast
selbstverständlich wird der widerlich respektlose, fahrlässig dumme, zufällige und
unorganische Verpflanzungsversuch nicht einmal als solcher an den Pranger gestellt. Wie
spassig !
Jedoch : auch einem Komponisten kommt eine Melodie nur als ganze, in sich
zusammenhängende Form ’in den Sinn’, keineswegs baut er sie aus einzelnen Noten
zusammen ( so schreibt er sie nachher bloss auf ). Und er variert sie, variert vielleicht bis keine
Note mehr im gleichen Zusammenhang mehr steht, und trotzdem erkennt das Ohr noch die
erste Melodie. Dass Kunstformen eine andere Spielart der Natur seien, hat schon Goethe
gemeint -- was kann man daraus lernen ? Fragen sind nie dumm, Antworten sind es bisweilen
schrieb Oscar Wilde.
Merkwürdig wenig bekannt bei Biologen ist eine ganze Schule resp. ein grosses
wissenschaftliches Institut, das Senckenberg-Museum in Frankfurt a.M., das einen
selbständigen, schon weit entwickelten Entwurf für eine neue Evolutionssicht geschaffen hat.
Was seine Mitarbeiter - ich erwähne, stellvertretend für alle übrigen, hier bloss W.F. Gutmann
und M. Grasshoff - als Evolution der Tiere vorstellen, verwirft das darwinistische Evolutionsbild,
wo aus einem amöbenhaften Einzeller, über Schwämme, Hydren und zwielichtige, supponierte
"Zwischenformen", das Wirbeltier angeblich entstanden sein soll. Sie sehen die
Unzulänglichkeiten der darwinistischen Theorie vor allem darin, wie die Lebewesen verstanden
werden. Sie wurden von ihr als Morphotypen beschrieben und in nie erklärte, als ’evolutionär’
interpretierte Reihen eingestuft. Ganz vergessen wurde der Eigendrang als ’biomechanische’
Vorgänge innerhalb des morphologischen Gefüges, d.h. die neue Sicht geht davon aus, dass
der Prozess des phylogenetischen Wandels vom Organismus her erfolgt. Die energie-gespiesenen, dementsprechend bedürfnis-bezogenen Umwandlungen formieren sich entlang
eng begrenzter organischer und umweltgegebener Faktoren, die dann Möglichkeiten eröffnen
und zu anderen Beschränkungen und neuen Möglichkeiten führen. So entstehen die
Verzweigungsformen der Evolution - ohne unerklärte klaffende Lücken, gestopft mit bloss
supponierten, weil dummerweise fehlenden Gliedern. Die Umwelt verhält sich hierbei
weitgehend neutral, passiv bewirkend, nur bei grossen Kataklysmen kann es zum
Massensterben kommen. - Wie die Verarbeitung von Krisen verstanden wird, kann ich aus dem
mir vorliegenden Schriften noch nicht erschliessen, aber es macht den Eindruck, dass dem
Phänomen der auf’s Nächstliegende begrenzten, zielblinden Selbstorganisation diese Funktion
zugeschrieben wird. Hier liegt ein grosses Forschungsgebiet noch fast brach. ( Was an dieser
Kürzestbeschreibung schief sein könnte, geht allein auf mein Konto ).
Es gäbe noch so viele Fragen zu stellen, die hier gar nicht erwähnt werden sollen, ausser der
einen : Warum hat dieser Darwinismus nicht schon längst abgewirtschaftet ? Ein Freund meinte,
er werde wohl nur als Ganzes, durch etwas in sich Schlüssiges abgelöst werden, aber
hoffentlich nicht als neuer Religionsersatz. Oder müssen wir vielleicht deswegen noch eine
Weile darauf warten, weil - ganz einfach - sowohl das allgemeine Publikum wie die
Wissenschaftler in dieser Art, populär gesagt "gnadenlosem wirtschaftlichen Kampf ums
Dasein" tagtäglich leben ? Und sich nichts anderes vorstellen können, solange die Gesellschaft
um sie herum nicht anders geworden ist ?
Scheinbar alles noch Blau.